Sonntag, 11. Dezember 2005

Unterwasser geht unter; die Gürtellinie

Ein Dorf rätselt

Terrorisieren Einheimische die Arztfamilie Michel?
Diese bohrende Frage treibt die Leute von Alt St. Johann um

Als das letzte Mal Journalisten aus der ganzen Schweiz im Obertoggenburg einfielen, fanden sie die wortkargen Bergler im Freudentaumel. Die Tennishalle Unterwasser gurgelte, brodelte, schäumte, jodelte und juchzte. An den Olympischen Winterspielen in Salt Lake City war ein Held geboren – Simon Ammann, vifer Bauernsohn aus Alt St. Johann, Doppelolympiasieger im Skispringen. Das Touristengebiet glänzte golden im Scheinwerferlicht der Öffentlichkeit.
Systematisch terrorisiert

In diesen Tagen nun kriecht Nebel von den verschneiten Hängen. Wieder kurven Journalisten durch Alt St. Johann und Unterwasser – vorbei an Restaurants und Hotels, vorbei an Autogaragen und Kleinbetrieben, vorbei an Bauernhöfen und Einfamilienhäusern. 1400 Menschen leben in der Gemeinde Alt St. Johann, zu der auch Unterwasser gehört. Zur Hauptsache ernährt sie der Tourismus, siebzig Bauern pflegen das Land, Einzelkinder gibts hier nur vereinzelt. Schöner leben – weit weg vom Dreck der Städte. Schön wärs, denkt man in diesen Tagen. Denn heute ist die Aufmerksamkeit nicht auf erfolgreiche Sportler, idyllisches Landleben und kühne Bergzüge gerichtet. Nun leuchten die Medienleute in dunkle Ecken – und finden neben rätselnden Berglern, Pfarrern und Lokalpolitikern bloss Gerüchte.

Die Polizei, die seit Langem ermittelt, Häuser überwacht und Fallen stellt, hüllt sich in Schweigen. Was die Öffentlichkeit wissen darf, ist längst veröffentlicht: Die Arztfamilie Michel wird seit Mai mit einer rassistischen Niedertracht sondergleichen beschimpft und an Leib und Leben bedroht; die Dunkelmänner zerstechen Pneus, auch Patienten des Arztes sind betroffen. Der Terror hat System, die Täter führen mit krimineller Energie aus, was sie ankündigen. Solange die Michels im Tal bleiben, drehen sie auf. Und provozieren: Sie observieren die Arztfamilie und ihre Patienten, sie schlitzen Pneus am helllichten Tag auf. Man denkt: Nur wer die Menschen und die Winkel hier genau kennt, bringt das zuwege. Man spekuliert: Das können nur Einheimische sein. Einer Patientin, die in einer Oktobernacht beobachtet, wie Unbekannte das Haus der ferienabwesenden Michels beschmieren, werden die Radmuttern am Auto gelöst. Ihre Familie wird bedroht, die Frau leidet psychisch schwer unter den Folgen.

Brief an der Wartezimmerwand

Haus und Praxis von Jörg Michel liegen abseits der Talstrasse. Im Wartezimmer ein Sofa, Tisch, Stühle, Kinderspielsachen, Zeitschriften. An der Wand hängt neben den Arztdiplomen ebenso sorgsam gerahmt ein Brief. Es ist das Kündigungsschreiben für Haus und Praxis. Jörg und Janet Michel haben es am 24. November Gemeindepräsident Alois Ebneter zukommen lassen. Denn die Liegenschaft befindet sich im Besitz der Gemeinde. Wer den Brief liest, versteht, warum es der Familie reicht. Warum soll sich Janet Michel, eine aus Simbabwe stammende Krankenschwester, mit Worten wie «Abschaum, Hure, Dreck» beschmutzen lassen? Warum soll sie um das Leben ihrer beiden Kinder fürchten müssen?

Ihr Mann sitzt in der Praxis und beantwortet Journalistenfragen. Kein hartes Wort. An der Solidaritätskundgebung vom Samstag hat Michel seine Haltung zum Ausdruck gebracht: «Eine hassende Seele hasst meist auch den, dem sie gehört.» Im Brief an den Gemeindepräsidenten haben es die Michels klar formuliert, weshalb sie wegziehen: «Die Vorstellung, dass Patienten durch unseren Verbleib zu Schaden an Leib und Leben kommen könnten, ist uns unerträglich, und dasselbe gilt natürlich auch für unsere eigene Familie, speziell für unsere Kinder, die seit Monaten nicht mehr unbeaufsichtigt das Haus verlassen können.» Der Arzt beantwortet Fragen. Nein, bis zum Mai sei alles in Ordnung gewesen. Nein, er habe keinen Personenschutz beantragt. Nein, den Behörden und der Polizei werfe er nichts vor. Die Wische, die bei ihm im Haus landeten, sind rassistisch. «Aber gerichtet waren sie direkt an mich.» Jörg Michel findet beim besten Willen keinen Grund für die Attacken. Und die schmierigen Gerüchte über ihn und seine Frau? «Das zeigt mir: nicht das ganze Dorf steht hinter uns.» Es gebe wohl Leute, die mehr wüssten, als sie sagten. Und vielleicht aus Angst schweigen. Ja, er hoffe natürlich, dass man die Täter fasse. «Aber viel wichtiger ist es für das Dorf selbst, für seinen Ruf.» Die Michels verlassen den Ort nicht in «Abbruchstimmung». Es herrsche Aufbruchstimmung. In Südafrika wird Jörg Michel wieder als Chirurg arbeiten. Aber das ist eine andere Geschichte. Der Arzt hat in der Öffentlichkeit lange geschwiegen. Jetzt gibt er seit Tagen Interviews. Sie sind vielleicht seine einzige Waffe gegen die Täter.

Ein mutiger Leserbrief

Öffentlich gemacht haben die skandalösen Taten aber Helen Künzle und Lisa Ammann mit ihrem ersten Leserbrief am 28. Oktober. Lisa Ammann erhält einen Drohbrief. Später bekommt auch Helen Künzle die Quittung: Nach dem Turnen kehrt sie mit Vereinskolleginnen im Restaurant Schönau in Unterwasser ein. Es ist 22.30 Uhr. Als sie eine halbe Stunde später ins Auto steigen will, sind alle Pneus aufgeschlitzt. Wälzt sie sich deswegen schlaflos im Bett? «Ich schlafe bestens», sagt die in Alt St. Johann wohnhafte Mutter von zwei Kindern. Viel mehr fürchte sie den Augenblick der Aufklärung. «Vielleicht ist es jemand, dem ich schon mal einen Kaffee serviert habe.» Aber sie bereut nichts: «Wir müssen doch unseren Kindern ein Vorbild sein.» Verstehen kann sie die Attacken ohnehin nicht: Jörg Michel hat beim Aufbau eines Familienrates geholfen und präsidiert ihn. Auch Janet Michel sei eine offene, engagierte Frau.

Das Wort ergriffen hat einige Tage nach dem Leserbrief auch der evangelische Pfarrer. In einer Predigt hat Martin Böhringer die Attacken auf die Arztfamilie in knappen Worten zur Sprache gebracht. Vor Gott sind all seine Kinder gleich. Es wurde still in der Tennishalle Unterwasser, wo Böhringer am Jubiläum des Jodelclubs die Predigt hielt.

Der Alteingesessene Jörg Abderhalden ist das sympathische Gesicht von Alt St. Johann. Der knorrige Bauer verurteilt die Taten scharf. Aber etwas ratlos wirkt er schon. Denn der evangelische Kirchgemeindepräsident, Gemeinderat, FDP-Präsident – Vater von drei Schwingern und einer Skirennfahrerin – kennt die Dorfbewohner. Es sei ein etwas verschlossener, aber ehrlicher Schlag. «Klar, klopft man am Stammtisch mal einen Spruch, aber fremdenfeindlicher als anderswo ist man sicher nicht.» Mag sein. Bei der Abstimmung über die erleichterte Einbürgerung schmetterten die Stimmbürger von Alt St. Johann vor Jahresfrist beide Vorlagen wuchtig ab.

Der goldene Glanz vergangener Tage verblasst. Gemeindepräsident Alois Ebneter erhält böse Mails von Auswärtigen. Eins lautet ungefähr so: «Wir werden das Toggenburg touristisch inskünftig meiden. Hoffentlich folgen viele Zürcherinnen und Zürcher unserem Beispiel.» Andreas Fagetti

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