Donnerstag, 21. Juli 2005

Dem «Marschplan» verpflichtet

Seit Anfang September ist Aviv Shir-On neuer israelischer Botschafter in Bern. Im Interview mit Rachel Manetsch spricht er über seine Herausforderung als Botschafter, die Debatte um das «Genfer Abkommen» und die angespannten Beziehungen zwischen Israel und der Diaspora.


tachles: Seit September 2003 sind Sie in Bern. Der Zwischenfall mit den Schweizer Diplomaten am Grenzübergang von Erez sowie die Initiative des «Genfer Abkommens» sind Ereignisse, die über das Tagesgeschäft eines Botschafters hinausgehen. Sie kamen demnach in einer diplomatisch angespannten Zeit in die Schweiz. Was sind Ihre ersten Eindrücke?
Aviv Shir-On: Die diplomatische Arbeit ist immer interessant und spannend, besonders, wenn man den Staat Israel vertritt. Die Schweiz, die im Zentrum Europas liegt, hat Beziehungen mit allen Beteiligten im Nahostkonflikt und Interesse, im Friedensprozess mitzuwirken. Insofern sind die ersten Eindrücke positiv.



tachles: Kurz vor Ihrem Eintreffen in Bern hat der israelische Aussenminister Silvan Shalom Bundesrätin Micheline Calmy-Rey in Bern besucht …
Aviv Shir-On: Ja das stimmt. Sie haben verschiedene Themen wie Israel, den Nahostkonflikt und Europa sowie die verschiedenen schweizerisch-israelischen Beziehungen angesprochen. Der Vorfall am Checkpoint von Erez wurde natürlich auch erwähnt. Momentan warten wir auf die Ergebnisse der Untersuchungen der Schweizer Kommission. Wir hoffen, dass der Zwischenfall die Beziehungen nicht beeinträchtigen wird, denn der gegenwärtige Stand der Beziehungen ist gut.



tachles: Wurde Shalom nicht bereits damals von Calmy-Rey über das «Genfer Abkommen» informiert?
Aviv Shir-On: Damals war noch nicht die Rede davon, dass die Verhandlungen zwischen Israeli und Palästinensern mit Schweizer Unterstützung stattfinden. Es gibt viele Treffen zwischen Israeli und Palästinensern, wir verfolgen nicht alle. Private, akademische und kulturelle Treffen finden trotz dem Eindruck statt, dass es nur Krieg und Probleme zwischen Israeli und Palästinensern gibt. Wir wurden weder von den involvierten Parteien noch von der Schweizer Regierung über dieses Projekt informiert. Erst als alles in der Presse stand, wurde ich Mitte Oktober vom EDA eingeladen. Dort wurde ich über das Projekt und die Schweizer Beteiligung, die finanzielle und logistische Unterstützung, informiert. Die Schweizer Regierung hat gesagt, dass sie nicht am Inhalt und an der Substanz der Gespräche beteiligt war. Wir haben keinen Grund, dies zu bezweifeln. Wenn die Schweizer Regierung versucht, dieses Abkommen international zu vermarkten, dann haben wir allerdings schon ein Problem damit.



tachles: Letzte Woche hat der Generaldirektor des israelischen Aussenministeriums, Yoav Biran, Beschwerde bei der Schweizer Vertretung in Tel Aviv eingereicht. Wie steht es momentan um das «Genfer Abkommen»?
Aviv Shir-On: Wir haben unsere Unzufriedenheit zum Ausdruck gebracht über die Tatsache, dass über die wichtigsten Interessen des Staates Israel diskutiert wurde, ohne dass die demokratisch gewählte Regierung des Staates Israel mit von der Partie war. Die Schweiz hätte genauso reagiert, wenn eine ausländische Regierung über schweizerische Interessen und Probleme verhandelt oder gar ein Projekt unterstützt hätte, ohne die Schweizer Regierung zu informieren. Wir haben wiederholt, dass der einzige Weg, um den ersehnten Frieden zu erreichen, der «Marschplan» ist, der von den USA, Russland, der EU, der Uno, Israel und den Palästinensern akzeptiert wurde. Wir fühlen uns verpflichtet, den «Marschplan» weiter zu verfolgen, und das werden wir auch tun.



tachles: Letzten Sonntag hat Premier Sharon Verhandlungen mit den Palästinensern in Aussicht gestellt. Kann man demnach sagen, dass die Initiative des «Genfer Abkommens» einen gewissen Druck zur Aufnahme der Verhandlungen ausgeübt hat?
Aviv Shir-On: Auch während der schlimmsten Momente zwischen Israeli und Palästinensern wurde versucht, Kontakte aufrecht zu erhalten. Wir wissen alle, der einzige Weg, um diesen Konflikt zu lösen, ist letzten Endes miteinander zu sprechen und miteinander und nebeneinander zu leben. In diesem Sinne versuchen wir auch die Gespräche wieder aufzunehmen. Es hängt vor allem von der Palästinensischen Autonomiebehörde ab. Wir können nur hoffen, dass Regierungschef Ahmed Kurei in der Lage ist, die Reformen, die im «Marschplan» erwähnt sind, zu implementieren. Das wird ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung sein. Wir bestehen allerdings auf einen totalen Stopp des Terrors und auf die Zerstörung der Terrorinfrastruktur.



tachles: Welche Rolle spielt Arafat für die weiteren Verhandlungen? Was geschieht nun mit ihm, nachdem die Absichten, ihn auszuschaffen, wieder zurückgezogen worden sind?
Aviv Shir-On: Wir glauben, dass Arafat ein Hindernis für den Frieden darstellt. Manche denken, wenn er weg vom Fenster wäre, hätten alle Beteiligten eine bessere Chance. Arafat war ein Terrorist, wir haben ihn trotzdem als Gesprächspartner akzeptiert. Nun hat er alle enttäuscht, nicht nur diejenigen, die den Friedensprozess unterstützt haben wie die USA und die EU, auch viele Israeli und vor allem seine eigenen Landsleute. Er führt die Palästinenser in eine Sackgasse. Arafat hat alles in seiner Macht stehende getan, um Fortschritte im Friedensprozess zu verhindern. Er war selbst an Terroranschlägen gegen Israeli beteiligt und hat dem früheren Ministerpräsidenten Abu Mazen das Leben schwer gemacht. Nun können wir nur hoffen, dass Abu Ala in der Lage ist, den Friedensprozess voranzubringen, trotz Yasser Arafat.



tachles: Seit Sie in der Schweiz sind, haben Sie bereits einigen Redaktionen wie zum Beispiel dem «Tages-Anzeiger» einen Besuch abgestattet. Wo liegt Ihrer Meinung nach die Grenze zwischen berechtigter journalistischer Kritik an Israel und Antiisraelismus?
Aviv Shir-On: Ich sehe es als eine meiner wichtigsten Aufgaben als Botschafter an, das Image von Israel richtig zu stellen. Ich finde es schmerzlich und schwer begreiflich, dass Israel, welches ständig angegriffen wurde, nun, da es sich wehren kann, als der Bösewicht dargestellt wird. Das ist unser Image und das möchte ich so schnell und gründlich wie möglich korrigieren, was natürlich eine schwierige Aufgabe ist. Ich möchte mit möglichst vielen Medien ins Gespräch kommen, um auch die Zuständigen dort über die aktuelle Lage in und um Israel zu informieren. Es gäbe übrigens viele Dinge, über die man berichten könnte: Trotz Krieg hat Israel eine vielfältige und lebhafte Gesellschaft aufgebaut, und unsere Hi-Tech-Industrie hat sich zu Weltklasseniveau entwickelt … und trotzdem hört man nichts anderes als über die bösen Israeli und die armen Palästinenser.



tachles: Wie konnte es zu so einem schlechten Image Israels kommen?
Aviv Shir-On: Es gibt einige Gründe dafür: Erstens, weil wir uns über Jahrzehnte hinweg erfolgreich verteidigen konnten und dadurch zur, militärisch gesehen, stärkeren Partei wurden. Menschen tendieren dazu, sich mit den Schwächeren zu identifizieren, was auch verständlich ist. Dies ändert aber nichts an der Tatsache, dass in diesem Konflikt die jetzige stärkere Partei auch diejenige ist, die im Grossen und Ganzen Recht behält. Ich möchte natürlich nicht den Eindruck erwecken, dass die Lage der Palästinenser gut oder erfreulich ist. Es herrscht kein Zweifel, dass das Problem der Palästinenser gelöst werden muss, und dies kann nur durch einen Frieden mit Israel geschehen. Aber wenn jemand denkt, sei es ein Palästinenser, ein Europäer, oder ein Schweizer, dass das Problem gelöst ist, wenn Israel Konzessionen macht und auf seine Sicherheit verzichtet, so irrt er sich gewaltig. Hier spielt vielleicht ein zusätzliches Thema eine Rolle: der Antisemitismus. Heute ist es für viele Antisemiten leicht, ihre antisemitischen Gefühle durch Antizionismus oder Antiisraelismus zu ersetzten. Ich möchte ganz klar sagen, dass wir Juden und Israeli uns hüten sollen, jeden, der Israel kritisiert, als Antisemiten zu bezeichnen. Man kann und darf natürlich auch den Staat Israel kritisieren, wie es mit allen anderen Staaten und Regierungen in der Welt der Fall ist. Ich rate uns allen, mit dem Begriff Antisemitismus behutsam umzugehen. Es gibt aber natürlich auch viele Antisemiten, und diese müssen an den Pranger gestellt werden.



tachles: Die israelische Regierung sagte, sie verhandle mit den Palästinensern erst wieder, wenn Sicherheit garantiert ist. Angesichts der Tatsache, dass es mit der israelischen Wirtschaft bergab geht, und angesichts der demografischen Aussichten steht die israelische Seite unter einem gewissen Zeitdruck. Die Palästinenser hingegen können auf Zeit spielen … Sagen Sie uns: Wie soll und kann dieses Problem gelöst werden?
Aviv Shir-On: Wenn das, was Sie sagen, zutreffen sollte, dann haben wir doch Recht, wenn wir behaupten, dass die arabische Welt sich noch nicht mit einem unabhängigen, jüdischen Staat im Nahen Osten abgefunden hat. Die internationale Gemeinschaft muss uns unterstützen. Denn wir sind die Opfer, denen Unabhängigkeit und Sicherheit verweigert wird. Alles, was wir tun, tun wir, um uns zu verteidigen und das Überleben von Israel zu sichern.



tachles: Könnten Sie sich vorstellen, dass der «Marschplan» inhaltlich durch das «Genfer Abkommen» abgelöst wird?
Aviv Shir-On: Die israelische Regierung sieht sich einzig und allein dem «Marschplan» verpflichtet, welcher vom Quartett akzeptiert wurde. Ich glaube nicht, dass Israel den «Marschplan» durch das «Genfer Abkommen» ersetzten wird. Was Israeli und Palästinenser miteinander privat besprechen, ist ihre eigene Sache und ihr gutes Recht, nicht mehr als das.



tachles: Der israelische Sicherheitszaun wird international von vielen Seiten diskutiert und kritisiert …
Aviv Shir-On: Die Vorwürfe, die Israel betreffend des Sicherheitszauns gemacht werden, sind wirklich absurd. Dieser Zaun wird einzig und allein aufgebaut, weil wir uns vor Terroristen schützen müssen. Terroristen können innert 15 Minuten von Tulkarem oder Kalkilya nach Kfar Saba zu Fuss gehen und sich dort in die Luft sprengen und dadurch unschuldige Zivilisten ermorden. Die muss einfach gestoppt werden.
Es ist schwer begreiflich, dass Israel kritisiert wird, wenn wir eine passive Schutzmassnahme einrichten. Niemand verliert darüber ein Wort, dass palästinensische Terroristen Zivilisten auf der israelischen Seite ermorden und sich später auf der palästinensischen Seite auch bei Zivilisten verschanzen. Wenn wir einen Zaun bauen, dann gibt es auch Folgen für die Palästinenser, aber jedes Land darf Massnahmen ergreifen, um seine Landsleute schützen zu können. Es ist klar, dass dieser Zaun keine Vorentscheidung für eine mögliche politische Grenze zwischen Israel und den Palästinensern ist. Denn auch dies hätten wir, wenn wir wollten, längst tun können. Wir haben erklärt, dass Gespräche mit den Palästinensern, vorankommen, sofern sie über eine zukünftige Grenze entscheiden und nicht der Zaun. Dieser ist einzig und allein aus Sicherheitsgründen gebaut worden, denn jeder Zaun kann wieder rückgängig gemacht werden; der Tod eines Menschen nicht.



tachles: Letzte Woche wurde in Israel eine Studie veröffentlicht, die sagt, dass 1,4 Millionen Menschen unter der Armutsgrenze leben. Demgegenüber wurden knapp 38 Millionen Franken für Siedlungen gesprochen. Können Sie diese Prioritätenordnung erklären?
Aviv Shir-On: Es werden keine neuen Siedlungen errichtet, alles was getan wird, wird im Rahmen der bereits existierenden Siedlungen getan. Die soziale Lage Israels liegt brach, und dies vor allem, weil Israel in einer wirtschaftlichen Krise steckt, wegen der Intifada und einer weltweiten Krise in der Hi-Tech-Branche. Darunter leiden alle Israeli, eingeschlossen die Staatsbürger, die in den Gebieten leben. Ich glaube nicht, dass, wenn morgen beispielsweise keine einzige Siedlung mehr existieren würde, die wirtschaftliche Lage besser würde. Es sei denn, wir finden bis dahin eine Lösung mit den Palästinensern und der Tourismus und ausländische Investitionen nehmen wieder zu.
Ich glaube übrigens nicht, dass die Siedlungen ein Hindernis für den Frieden sind. Die meisten Israeli wissen, dass die Lösung einen territorialen Kompromiss erfordert. Es leben eine Million palästinensischer Araber als israelische Staatsbürger in Israel, warum dürfen so und so viele Juden nicht in Gebieten leben, auch wenn dort künftig ein palästinensischer Staat entsteht? Die Behauptung, dass Juden nicht in Hebron leben dürfen, einzig und allein weil sie Juden sind, ist inakzeptabel. Wenn Hebron, das für uns eine heilige Stätte ist, eines Tages zu einem palästinensischen Staat gehören sollte, schliesst es dann aus, dass Juden heute dort leben dürfen? Es wäre genauso inakzeptabel, wenn jemand, der als Christ aus religiösen Gründen in Bethlehem leben will, nicht dort leben dürfte, weil er Christ ist.



tachles: Die jüdische Diaspora spaltet sich zusehends in einen Teil radikaler Sharonbefürworter und in einen Teil, der sich von der Politik Israels abwendet. Können Sie verstehen, dass die bedingungslose Unterstützung der Diaspora-Juden abnimmt?
Aviv Shir-On: Eine meiner wichtigsten Aufgaben als israelischer Botschafter und Jude ist es, die Beziehungen zwischen Israel und der jüdischen Gemeinde in der Diaspora, speziell in der Schweiz, zu vertiefen und zu verstärken. Dass in der jüdischen Gemeinde in der Schweiz wie auch innerhalb Israels verschiedene politische Meinungen herrschen, ist klar. Ich sehe darin überhaupt kein Problem. Wenn aber die Legitimität der israelischen Sache, gerade von Juden in der Diaspora, in Frage gestellt wird, finde ich das schlecht und gefährlich – nicht nur für Israel, sondern für das ganze jüdische Volk.


tachles: Die EU hat kürzlich in einer Umfrage ermittelt, dass 59 Prozent der Befragten Israel als grösste Bedrohung für den Weltfrieden sehen. Wie erklären Sie sich ein solches Resultat?
Aviv Shir-On: Es ist kaum erklärbar. Es ist wirklich traurig und absurd. Diese Umfrage ist unseriös und fälscht die Tatsachen. Wenn Syrien, Libyen, Iran und Irak hinter Israel stehen, dann heisst es, dass die Europäer, aber vielleicht auch nur diejenigen, welche an dieser Umfrage teilgenommen haben, nichts, aber auch gar nichts vom Nahen Osten oder vom «Weltfrieden» verstehen.

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