Donnerstag, 21. Juli 2005

56 järiger Mann stirbt!

Mitten in der Stadt Genf stirbt ein 56-jähriger Mann allein in seinem Appartement und wird erst 18 Monate darauf entdeckt. Eine Spurensuche.
Michel C. beim Essen im «Caré», dem Treffpunkt der Caritas in Genf, die sich der «Ärmsten und Armen» annimmt.
Am Donnerstag, 12. Mai 2005, kurz nach 18 Uhr, betrat der diensthabende Arzt den Wohnblock an der Route des Acacias 12 in Genf, stieg in den Lift, fuhr in den sechsten Stock und durchquerte den langen Flur, um Appartement 166 zu suchen, wohin man ihn bestellt hatte. Die Tür stand halb offen, von drinnen waren Stimmen zu hören. In der Einzimmerwohnung standen ein Polizist und eine Frau neben dem Bett, dem einzigen Möbelstück im Raum. Darauf lag der bis aufs Skelett verweste Leichnam von Michel C., des Adoptivvaters der anwesenden Frau. Sie hatte die Polizei alarmiert. Um 18.20 Uhr notierte der Arzt Michel C.s Hinschied auf dem Totenschein. Er schätzte den Zeitpunkt des Todes auf Ende 2003; der Mann hatte eineinhalb Jahre tot in der Wohnung gelegen, ohne dass ihn jemand vermisste.

Michel C. war 1995 in das 20 Quadratmeter grosse Studio gezogen. Früher hatte er als Kaminfeger gearbeitet, im Quartier und in den Bistros kannte man ihn. Er war bei der Feuerwehr, spielte Pétanque. Bis ein Unfall sein Leben aus dem Lot brachte: Bei einer Feuerwehrübung verletzte er sich am Knöchel, musste seine Arbeit aufgeben. Halt fand er im Alkohol, bald nannte man ihn nur noch «Pastis». Sein Geld liess er in den Bars liegen, er machte Schulden, die Leute begannen ihn zu meiden. 1987, im Alter von 16 Jahren, zog seine Tochter von zu Hause aus, dann liess sich seine Frau von ihm scheiden.

Frau und Tochter wollen nicht mehr mit der Presse sprechen. Sie hatten sich in den welschen Medien kurz geäussert. Das Verhältnis zu Michel C. sei immer schlechter geworden, je mehr er getrunken habe. Man habe ihm helfen wollen, er habe abgelehnt. Sieben Entzugskuren hätten ihn nicht vom Alkohol weggebracht. Die Besuche seien seltener geworden, obwohl die Tochter ebenfalls in Genf wohnte. Schliesslich habe sich der Kontakt auf ein Telefonat im Jahr beschränkt, zu Silvester.

An Silvester 2003 nahm niemand den Hörer ab, 2004 auch nicht. Als die Tochter im April 2005 einen Brief des Amts für Betagtenbetreuung (OCPA) erhielt, es bestünden Unklarheiten über den Aufenthaltsort ihres Vaters, kam sie zum Schluss, es müsse etwas passiert sein. Anfang 2000 hatte sie ihren Vater letztmals lebend gesehen. Am 12. Mai 2005, kurz nach 15 Uhr, informierte sie die Polizei. Weil niemand einen Schlüssel hatte, rief man den Schreiner, der die Tür öffnete. Um 16.55 Uhr wurde die Leiche entdeckt.

Zehn Jahre im Studio mit Kochnische

Nachdem der Arzt den Totenschein ausgestellt hatte, liess die Polizei eine Bestattungsfirma kommen. Man packte die Leiche in einen Hygienesack, brachte sie ins gerichtsmedizinische Institut. Auf eine Obduktion, mit der sich ein genaues Todesdatum herausfinden lässt, wurde verzichtet. Die Mediziner analysierten nur das Gebiss, um die Identität des Toten zweifelsfrei festzustellen. Man einigte sich auf einen «natürlichen Tod»; Hinweise auf Fremdeinwirkung oder Selbstmord fehlten.

1993 hatte Michel C. sein Glück im Ausland gesucht. Er liess sich die Pensionskasse auszahlen, flog nach Santo Domingo, wollte ein Restaurant eröffnen. Doch er zerstritt sich mit dem Partner, das Projekt scheiterte, das Geld war weg. Zwei Jahre später war er zurück in Genf, klopfte beim Sozialdienst an. Der vermittelte ihm das Studio an der Route des Acacias. Ein sechsstöckiger Block aus den siebziger Jahren, für Büros geplant, zu Wohnungen umgebaut. Endlose Korridore, 25 identische Türen auf jeder Etage, fremdländische Namen an den Briefkästen. Das Studio mit Kochnische kostete rund 600 Franken pro Monat; bezahlt wurde es vom OCPA, das ihm seit 1995 eine Invalidenrente und Ergänzungsleistungen überwies.

Davon zog das Amt die Miete ab und schickte das Geld direkt der Verwaltung Bory SA. Denn Michel C. liess Rechnungen immer öfter liegen. 2200 Franken blieben ihm pro Monat, was kaum ausreichte. Im Herbst 2000 begab er sich zweimal zum Schalter des OCPA und bat um Geld; die Beamten verbuchten je 50 Franken als «dépannage» – Pannenhilfe. Das waren die zwei einzigen direkten Kontakte zum Amt; C. musste sich nie persönlich präsentieren, wurde nie von den Behörden aufgesucht.

Kantonspolizist Christian Luthy, Chef der Brigade der «levées de corps», zeigt sich über den Fall schockiert. Sein Team holt jährlich etwa 50 Tote aus Genfer Wohnungen. Ein paar Tage könnten schon vergehen, bis sie entdeckt würden, manchmal Wochen. «Aber dieser Fall stellt alles in den Schatten», sagt der Polizist, der seit 27 Jahren Dienst tut und seit fünf Jahren die Bergungsbrigade führt.

Ein Minimum an sozialem Kontakt

Als bisher tragischsten Fall erinnert sich der 51-jährige Familienvater an einen Toten, den man im selben Bezirk im Frühjahr 2004 erst nach neun Monaten entdeckte. Doch auch in Nobelquartieren werde einsam gestorben: Einmal fanden Gerüstarbeiter einen Toten. Sie hatten dessen Villa renoviert und gesehen, dass der Mann tagelang reglos vor dem Fernseher sass.

«Meiner Meinung nach haben die Sozialdienste versagt», sagt Luthy zum «Fall Michel C.». Wie könne ein Amt jahrelang Geld schicken, ohne die Person je zu sehen? «Einmal im Monat mit den Leuten einen Kaffee zu trinken sollte doch möglich sein. Es geht nicht um Big Brother, aber um ein Minimum an sozialem Kontakt.» Das Haus, in dem Michel C. gefunden wurde, war Luthy nicht unbekannt. Im April 2005 war er dorthin gerufen worden: Der Hausmeister hatte sich im Bad umgebracht.

Der Hausmeister war einer der wenigen gewesen, die Kontakt zu Michel C. pflegten. Ab und zu klopfte er an die Tür, und ihm fiel auf, dass C. den Briefkasten nicht mehr leerte. Ende 2002 hatte er C. letztmals gesehen. Als sich im Flur ein strenger Geruch ausbreitete, rief der Hausmeister die Verwaltung an. Diese liess die Lüftung prüfen, doch weil alles in Ordnung schien, führte man den Geruch auf faulenden Abfall, heimlich gehaltene Haustiere und exotisch gewürzte Gerichte zurück. Der Hausmeister, sagen Nachbarn, habe ab und zu die Schwelle zu Michel C.s Tür mit einem Spray desinfiziert.

Da stellte man einfach den Strom ab

Die Bewohner des Blocks zeigen sich über den Vorfall betroffen, wollen aber kaum Stellung nehmen. Ein Nachbar, der seit Jahren auf derselben Etage wohnt, kannte Michel nur vom Sehen. Und vom Hören, denn die Wände sind dünn. Michel habe einen eigenen Rhythmus gehabt, schaute bis spät nachts fern. Man habe ihn herumpoltern gehört, und man habe natürlich gemerkt, dass er Alkoholiker war. Irgendwann stellte der Nachbar fest, dass aus Michels Wohnung kein Laut mehr kam. Einmal informierte er die Verwaltung, einmal roch er an der Tür; angeklopft hat er nie. Ein anderer Bewohner hat gesehen, dass der Briefkasten überquoll. Doch als er die Hausverwaltung informierte und diese nichts unternahm, dachte er nicht mehr darüber nach. Die Bewohner sagten sich, entweder sei Michel abgereist, abgestürzt oder in einer Klinik. Nur manchmal tauchten Zweifel auf, er könnte doch noch im Zimmer sein. Dann tröstete man sich mit dem Gedanken, man dürfe nicht zu sehr in die Privatsphäre anderer Leute eindringen.

Als man Michel C.s Briefkasten leerte, trugen die ältesten Sendungen einen Stempel von Januar 2003. Im April 2003 war C. letztmals lebend von seiner Exfrau gesehen worden, im Spital, denn C. war an Krebs erkrankt. Im Dezember 2002 hatte C. letztmals eine Rechnung bezahlt, die Stromrechnung. Weil danach kein Geld mehr einging, mahnte das Elektrizitätswerk (SIG) den Säumigen dreimal und drohte, man stelle den Strom ab. Der Briefträger konnte den Einschreibebrief nicht zustellen. Ein Beamter begab sich vor Ort, stellte den Strom ab und schob einen Zettel in den vollen Briefkasten. Dann kontaktierte er die Hausverwaltung, doch diese unternahm nichts, da die Miete immer pünktlich bezahlt wurde. Auch die Post hielt sich an ihre Routine: Eingeschriebene Briefe schickte sie dem Absender zurück, den Rest bewahrte sie auf und liess den Kunden wissen, er möge die Sachen am Schalter abholen. So verging die Zeit.

Laurent Widmer, Sprecher der Post: «Es ist nicht die Pflicht der Briefträger, Absenzen nachzugehen. Solange auf einem Briefkasten ein Name steht und dieser mit dem Namen auf der Sendung übereinstimmt, wird die Post zugestellt.» Christine Ley, Sprecherin der SIG: «Wir sind nur Lieferant einer Dienstleistung; wir haben kein Recht, uns ins Privatleben eines Kunden einzumischen.» Die Hausverwaltung Bory mag keine Stellung beziehen. Aufgebracht meint die Telefonistin, der Techniker sei nicht da, und wenn man entgegnet, es ginge doch nicht um etwas Technisches, antwortet sie resolut: «L’affaire est terminée.» Dann hängt sie auf.

Im Bistrot Cyrano, wo Michel C. fast täglich seinen Kaffee, später seinen Pastis trank, setzt sich Wirtin Charlotte Chaumond, 75, mit einem Seufzer an den Tisch, stellt ihre Krücke ab und meint: «Ce n’est pas du gâteau» – «Man hats nicht einfach.» Im «Cyrano» kostet das Glas Wein weniger als der Kaffee, hinter dem Tresen hängt eine Magnumflasche Pastis. Michel C. sei «ein lieber Kerl» gewesen, man habe ihn schon gekannt, als er noch Kamine putzte. Aber das sei lange her, Freunde hätte er längst keine mehr gehabt: «Les copains du bistro ne sont pas des vrais copains.» Als sie bemerkte, dass Michel C. nicht mehr ins Bistrot kam, sprach die Wirtin den Hausmeister an. Man rätselte, ob der Vermisste im Ausland, in einer Klinik oder gestorben sei. Nachschauen wollte man nicht, obwohl das «Cyrano» gleich ums Eck liegt. «Warum haben sich die Sozis nicht um ihn gekümmert?», sagt die Patronne und weist zum Nachbarhaus, wo die Caritas den Treffpunkt Caré betreibt.

Im «Caré» war Michel C. früher fast täglich. Seit bald 30 Jahren kümmert sich die Organisation um «die Ärmsten der Armen», sagt Gründer Jean-Marie Vienat. 150 Gratis-Mahlzeiten stellen die Mitarbeiter täglich auf die voll besetzten Tische, nachmittags wird Basteln, Sport, Theater angeboten. Michel C. hatte oft im Garten gearbeitet und Pétanque gespielt. Eines Tages blieb er aus, die Gassenarbeiter nahmen es zur Kenntnis. «Wir achten ihre Freiheit über alles», sagt Vienat, «sie dürfen uns ihr Leben erzählen, müssen aber nicht. Von Michel wussten wir nur, dass er Krebs hatte, sonst war er sehr verschwiegen.»

«Verkettung unglücklicher Umstände»

Ein Foto erinnert im «Caré» an Michel C., es zeigt ihn mit Kollegen beim Essen. Und jemand hat seine Todesanzeige aufgehängt. «Wir begleiten ihn mit unserem Gebet», steht über dem vergilbenden Papier. Einer der Gäste, Christof, 28, nennt das Ganze «une faute professionelle»: «So viele Ämter und Personen hatten mit ihm zu tun, aber keiner hat nachgeschaut, was wirklich los war.» Und ergänzt: «Weil man wusste, dass er Alkoholiker war, hätte man ihm einen Beistand geben müssen. So hätte jemand regelmässig mit ihm Kontakt gehabt.»

Der Direktor des OCPA, Michel Gönczy, dessen Amt die Miete beglich, spricht von «einer aussergewöhnlichen Verkettung unglücklicher Umstände». Ansonsten verweist er auf den Amtsweg: «Wir sind kein Sozialdienst, sondern eine Verwaltung. Wir haben keine rechtliche Befugnis und keine personellen Mittel, unsere Kunden vor Ort zu kontrollieren.» Ende 2002 war dem Amt aufgefallen, dass Michel C. die Postgutschriften für die Medikamente nicht mehr einlöste. Einige Monate darauf schickte ihm das OCPA eine Einladung, er möge sich am Schalter melden. Sie landete im überfüllten Briefkasten, wie auch die folgenden. Die Zeit verging.

Im April 2004 besichtigte ein Beamter des OCPA Michel C.s Wohnhaus, sah den vollen Briefkasten, befragte Hausmeister, Vermieter, Bewohner. Michel C. sei ins Ausland abgereist, urteilte das Amt und stellte seine Zahlungen ein. Als die Miete ausblieb, verschickte der Vermieter Mahnungen und leitete das Zwangsausweisungsverfahren ein. Kurz vor dessen Abschluss entdeckte man Michel C.s Leiche.

Eine Woche lang blieb der Tote im Kühlraum der Gerichtsmediziner. Die Tochter setzte drei Todesanzeigen in die Zeitung, weil sie ahnte, dass diese in Michel C.s Stammlokalen eher überflogen als gelesen wurden. Am Freitag, 20. Mai 2005, überführte man die Leiche ins Krematorium St-Georges. Um zehn Uhr früh fand die Abdankung statt. Michel C.s Asche wurde im anonymen Gemeinschaftsgrab «Jardin des souvenirs» beigesetzt. Ausser der geschiedenen Frau und der adoptierten Tochter erschien niemand.

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